Interview über Veränderungen und aktuelle Herausforderungen der Anti-Gewalt-Arbeit für LSBTIQ*
Die Landeskoordination Antigewalt-Arbeit im Rubicon e.V. engagiert sich von Köln aus NRW-weit seit 20 Jahren für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und gegen Diskriminierung. Was hat sich in dieser Zeit in der Beratungs- und Anti-Gewalt-Arbeit verändert?
Am Anfang richtete sich die Anti-Gewalt-Arbeit an Lesben und Schwule und arbeitete hier insbesondere die Unterschiede heraus. Lesben erlebten stärker psychische und sexualisierte Gewalt, Schwule physische Gewalt. Im Laufe der Jahre sind weitere Identitätskategorien und Besonderheiten von anderen queeren Personen hinzugekommen. Wie beispielsweise die Perspektive von Trans*Personen oder von Bi- und Pansexuellen. Die Herausforderung ist, all diesen unterschiedlichen Gruppen gerecht zu werden, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede zu sehen.
Auch hat sich die Anti-Gewalt-Arbeit im Laufe der Jahre stärker intersektional aufgestellt. 2017 ist der Bereich Flucht mit Dokumentation und Fortbildung hinzugekommen. Dies war und ist notwendig, da es in diesem Bereich besonders viel Gewalt und Diskriminierungserfahrung gibt. Seit 2022 wird vom Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration die NRW-weite Stelle „Psychosoziale Beratung und Case Management für LSBTIQ, die von Gewalt betroffen sind“ gefördert. Hier bietet Vielfalt statt Gewalt Beratung, Unterstützung und Begleitung von Gewaltbetroffenen sowie Fortbildungen in Hilfesystemen.
Fortbildungen innerhalb der Polizei waren von Beginn an im Jahr 2003 ein Arbeitsfokus. Neu ist, dass seit den 20er Jahren die Justiz stärker berücksichtigt wird. Aktuell arbeitet die Anti-Gewalt-Arbeit im Gremium des Bundesinnenministeriums „Arbeitskreis gegen homo- und trans*feindliche Gewalt“ mit. Der Bericht dieses Gremiums wurde kürzlich in der Innenministerkonferenz diskutiert.
Rubicon arbeitet auch mit dem Expertengremium Opferschutz zusammen. Teil der Arbeit ist neben Intervention, Prävention und Empowerment auch die Dokumentation von Gewalt- und Diskriminierungsfällen an Geflüchteten und Bildungsarbeit u.a. in Schulen. Auf welche Herausforderungen treffen Euch aktuell?
Über unser Kooperationsprogramm „Schule der Vielfalt“ erfahren wir, dass es verstärkt queerfeindliche Haltungen, Äußerungen und Haltungen an Schulen gibt. Dies führte z.B. zu Abbrüchen von Workshops, bei denen es nicht mehr möglich war mit den Jugendlichen zu arbeiten. Zudem wurden wiederholt Regenbogenflaggen an Schulen angezündet oder abgerissen (weiterführend, siehe: Jahresbericht 2022, S. 37 und Bilanz 2023, S. 45-47).
Im Expertengremium Opferschutz im Justizministerium hat Vielfalt statt Gewalt in Kooperation mit dem LSVD NRW, der Lako Trans* (Queeres Netzwerk und NGVT) und der Lako Inter (Queeres Netzwerk) die „Handreichung zur Berücksichtigung geschlechtsspezifischer und gegen die sexuelle Orientierung gerichteter Beweggründe bei Straftaten mit Bezug zur LSBTIQ*-Community“ diskutiert. Diese dient dazu, Staatsanwält*innen das Handwerkszeug zu geben, queerfeindliche Motive zu erkennen und sensibel mit LSBTIQ-Personen zu kommunizieren.
Die LKS ist zentrale Anlaufstelle in den Themenfeldern Rechtsextremismus und Rassismus in Nordrhein-Westfalen. Welche Rolle spielt die Bedrohung von rechts für Eure Arbeit?
Queerfeindliche Gewalt zählt in der Definition zu rechter Gewalt, jedoch kommt die Zielgruppe dieses Phänomenbereichs bei Opferberatungsstellen rechter Gewalt wenig an. Queere Menschen wenden sich immer eher an queere Organisationen und ordnen ihre erlebte queerfeindliche Gewalt selten einer rechten Motivation zu.
Auch richtet sich Gewalt gegen queere Organisationen. Zahlreiche Berichte sind bekannt von Sachbeschädigungen. Die im Aufbau befindliche Meldestelle gegen Queerfeindlichkeit (Allianz aus Netzwerk geschlechtliche Vielfalt und Trans* NRW (NGVT*), der Lesben- und Schwulenverband NRW (LSVD), rubicon e. V. in Trägerschaft des Queeren Netzwerks NRW) berichtet von Hatespeech.
Taten gegen LSBTIQ-Personen und Organisationen können spontan sein oder politisch gerichteter Natur. Spontane Angriffe auf queere Menschen finden immer dann statt, wenn sie als „queer“ sichtbar werden. Beispielsweise Händchenhaltend durch die Stadt gehen, auf dem CSD, nach einer Party, vermehrt aufgrund des Tragens von Symbolen wie Regenbogenfahnen.
Rechts beschreibt hier ein Abnehmen der Toleranz oder Akzeptanz dessen, was als „anders“ gesehen wird. Wir müssen den organisierten Rechtsextremismus im Blick haben, der die politische Arbeit von queeren Aktivist*innen und Organisationen gefährdet.
Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 zeigt, dass rechtsextreme Einstellungen zum Teil deutlich zurückgegangen sind, gleichzeitig angestiegen und weit verbreitet ist aber der Hass auf als „anders“ markierte Menschen wie Frauen und queere Menschen, Migrant*innen, Muslim*innen, Jüd*innen aber auch auf Vertreterinnen und Vertreter der Medien und der Wissenschaft. Sie erleben verbale und physische Gewalt, Hass und Bedrohungen, werden diskreditiert und bedroht. Wie nehmt Ihr aus der Sicht der Beratung diese aktuelle Entwicklung wahr?
Queerfeindliche Narrative – insbesonders trans*feindliche Narrative – sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wir beobachten viele trans*feindliche Angriffe analog oder digital. In unserer Beratung berichten viele trans* Personen von einer gestiegenen Angst vor trans*feindlicher Gewalt. Wir begleiten gemeinsam mit anderen Organisationen queere Menschen mit Rassimuserfahrung, die Gewalt erlebt haben.
Die Zahlen der politisch motivierten Kriminalität, der Eingangsstatistik der Polizei, steigen in den letzten Jahren enorm. Derzeit sind wir bei ca. 1400 Fällen queerfeindlich motivierter Straftaten für ganz Deutschland 2022. Ein Dunkelfeld von etwa 90% wird vermutet. Die Leipziger Autoritarismus-Studie bietet einen wichtigen Hinweis darauf, dass sich nicht nur das Anzeigeverhalten von queeren Menschen verändert hat, was als positiv zu bewerten wäre, sondern dass sich die Gesellschaftliche Stimmung in Richtung besorgniserregender Queerfeindlichkeit verändert.
Rubicon ist Mitglied im Landesnetzwerk gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Wie wichtig sind der Austausch und die Vernetzung mit den anderen Akteur*innen für Ihre Arbeit?
Die Vernetzung ist für uns sehr wichtig, da unser Anspruch ist, intersektional zu arbeiten. Intersektionalität darf kein buzzword sein, es muss in die fachliche Auseinandersetzung und praktische Ausgestaltung fließen. Wir können unsere Expertise zu Themen von Gewalt gegen LSBTIQ-Personen einbringen, profitieren aber auch von Erfahrungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Antisemitismus und Rassismus. Damit wir gemeinsam stark gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden, müssen wir zusammenarbeiten, Erfahrungen austauschen, Wissen teilen und voneinander lernen.
Eine letzte Frage: Wenn Ihr einen Wunsch frei hättet – welcher wäre das?
Das wir in einer Gesellschaft lebten, in der sich unsere Arbeit überflüssig gemacht hat. Auf dem langen Weg dorthin brauchen wir mehr Mittel, um die Beratungslandschaft für gewaltbetroffene queere Menschen in NRW auszubauen. Mit festen Stellen, die nicht als Projekte sondern als Strukturen gefördert werden und vor allem auch: Schutzhäuser, für gewaltbetroffene LSBTIQ-Personen.
Das Interview führte Verena Hoppe mit Julian Fischer.