Ein Interview nach dem Anschlag in Solingen mit Michael Roden, Sachgebietsleitung Demokratieförderung und Verwaltung der Stadt Solingen.
Wie erleben Sie die Situation aktuell in der Stadt, wenige Tage nach dem Anschlag?
Zunächst gab es nichts als Fassungslosigkeit, Betroffenheit, Schockstarre und Trauer. Gefühlt kannte Jede und Jeder jemanden, der mittelbar oder unmittelbar betroffen war. Das häufigste Wort, das ich hörte, war „surreal“. Es wirkte und wirkt noch immer unwirklich. Wir wollten einfach gemeinsam feiern, monatelang wurde vorbereitet, Hunderte waren beteiligt, Tausende sollten kommen. Dann kam der Terror. Mit ihm oben genannte Regungen, die Fernsehteams, die Demonstrationen und, mal wieder, die Aufmerksamkeit.
Wie sind die Reaktionen in der Solinger Bevölkerung auf den Anschlag?
Fassungslosigkeit, Betroffenheit, Schockstarre und Trauer waren vorherrschend. Gleichzeitig entfachte sich vor allem in den sozialen Medien extrem viel Wut: Auf den Staat, „die Politik“, Geflüchtete, Islamisten und den Islam im Allgemeinen, auf alle, die als fremd und nichtzugehörig gelesen werden. Bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nahm ich sehr viel Scham, Angst und massive Wut auf den Attentäter wahr. Gerade Menschen aus Syrien, die selbst geflohen sind, hier Unterstützung erhielten und ihre Chance dankbar wahrnehmen, fühlen sich, als ob ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde: Vor Terror geflohen, hier der Terrorgefahr ausgesetzt und in der Folge unter generalisiertem Terrorverdacht, da gleicher Herkunft wie der Attentäter.
Mit zunehmender Zeit und mit mehr Informationen über die bisher bekannten Umstände, ließ – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – das Affektive in der Masse nach, wobei die Kommentarspalten in den sozialen Medien generell nicht als einziger Maßstab gelten dürfen. Es gab sehr viel Solidarität, Unterstützung und Beistand. Viele Menschen kamen sich näher, ein wenig, als ob man spürte, dass Mitmenschlichkeit das Einzige ist, das uns da durchhilft. In diesem Kontext gab es unter anderem verschiedene Gedenkveranstaltungen – die erste bereits am Samstag nach der Tat in aller Öffentlichkeit, als sich der Täter wohl nur wenige Hundert Meter entfernt irgendwo versteckte. In den Tagen darauf gab es immer wieder Gelegenheiten, bei den Menschen zusammenkamen, sich zuhörten, unterstützten und einfach füreinander da waren. Die Menschen erschufen mit einem Blumen- und Kerzenmeer an der Kirche einen eigenen Gedenkort. Communities von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fanden Mut und Kraft zur Artikulation, publizierten Pressemitteilungen, veranstalteten Kundgebungen und äußerten ihre Abscheu über Täter und Tat.
Wie reagieren Initiativen / Bündnisse, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus engagieren, auf den Anschlag?
Wie in der Gesamtbevölkerung war die Stimmung von Trauer, Betroffenheit und Fassungslosigkeit geprägt. Erwartungsgemäß versuchten Akteure aus dem extrem rechten Spektrum aus der Tat politisches Kapital zu schlagen. Das Dilemma der Initiativen bestand darin, dass sich meiner Wahrnehmung nach niemand nach einer Kundgebung fühlte, es aber schwer erträglich und vorstellbar war, dass extrem rechte Akteure die Innenstadt besetzen. Am Sonntag meldete ein Bündnis aus Wuppertal eine Kundgebung in der Innenstadt an. Das örtliche Bündnis „Solingen ist Bunt statt Braun“ machte darauf aufmerksam, ohne explizit dazu aufzurufen, weil viele vor Ort, einfach trauerten. Am Montag lud „Bunt statt Braun“ dann zum gemeinsamen Trauern in der Innenstadt ein, ohne jegliche Reden.
Wie bewerten Sie das wiederholte Auftreten von Rechtsextremen in den Tagen nach dem Anschlag?
Die Junge Alternative NRW mobilisierten am Sonntag, den 25. August cirka 40 Personen in die Solinger Innenstadt. Dort sprach unter anderem der Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich. Am Tag darauf fand der ohnehin vorgesehene Aufzug der Solinger Querdenker:innen statt, dem sich cirka 150 Rechtsextreme, die zu ganz überwiegendem Teil von außerhalb kamen, anschlossen. Nach wiederholten „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“- Rufen brach die Versammlungsleiterin den Aufzug ab, Querdenker:innen verließen die Demonstration und Claus Cremer (Die Heimat, Freie Kameradschaftsszene) meldete unmittelbar einen neuen Aufzug an. Im Folgenden traten in der einschlägigen Messenger-Gruppe offene Differenzen zwischen Querdenker:innen und Neonazis zutage. Alles in allem trat die extreme Rechte zersplittert auf und konnte keinen nennenswerten Anschluss in die breite Bevölkerung finden. Aufgrund der existierenden Konflikte und der zwangsläufig abnehmenden medialen Aufmerksamkeit, ist es eher unwahrscheinlich, dass Rechtsextreme von außerhalb dauerhaft nach Solingen kommen. Örtliche Akteure aus dem rechtsextremen Spektrum orientieren sich eher in Richtung größere, umliegende Städte. Jenseits offen rechtsextrem auftretender Neonazis ist jedoch die Frage virulent, ob und inwiefern sich hier in der Mitte der Bevölkerung Rassismen manifestieren.
Wie bewerten Sie die die aktuelle politische Debatte, die sich in Reaktion auf den Anschlag entwickelt hat?
Ich hoffe auf einen Diskurs, der sachorientiert und vernünftig geführt wird und das gefühlte und faktische Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung mit der Prämisse universeller Menschenwürde, unter Berücksichtigung geltenden Rechts, in Einklang bringt. Die Aufgabenstellung an sich weist darauf hin, dass hier analytisch anstatt affektiv vorgegangen werden sollte. Ich hoffe sehr, dass die Politik sich die notwendige Zeit zur Analyse nimmt und die Lösung der skizzierten Aufgabe gelingt.
Wie schätzen Sie die langfristigen Auswirkungen des Anschlags auf das Zusammenleben in der Stadt ein?
Auch vor dem 23. August gab es in dieser Stadt, naturgemäß wie in jeder anderen Stadt dieser Größenordnung, Konflikte und Akteur:innen, die die liberale Demokratie ablehnen. Gleichzeitig gab und gibt es hier sehr viele Akteur:innen, Netzwerke und Institutionen, die das gelingende Miteinander aller hier lebenden Menschen im Blick haben. Zudem nehme ich an manchen Stellen Trotz wahr, wonach man sich die liberale Demokratie nicht von einem mutmaßlichen Islamisten zerstören lassen und die offene Gesellschaft weiterhin leben will. Klar ist jedoch auch, dass hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine Menge Arbeit auf uns zukommen wird. Hier gilt es wie immer optimistisch zu bleiben und die positiven, zielgerichteten Ansätze zu identifizieren, um voran zu kommen.